Madame Hudtwalcker
In ihrem Haus trafen sich Geld und Kunst
Das kleine Mädchen war nur elf Monate alt geworden. Trauernd standen die Eltern vor dem winzigen, leblosen Körper. Der Bestattungsunternehmer war schon bestellt. Da nahm die Mutter mit zitternden Händen ein Federmässer, beugte sich über ihr Kind und schnitt es seitlich in den Hals. Erst als dunkles Blut hervorsickerte, gaben die Eltern den Leichnam frei. Denn erst dieses Zeichen hatte sie endgültig davon überzeugt, dass wirklich kein Leben mehr in ihrem kleinen Töchterlein war.
Was heute grausam anmutet, war in Wirklichkeit ein Beispiel von rührender Elternliebe. Und die Frau, die es über sich brachte, ihr totes Kind in den Hals zu schneiden, war weder töricht noch durch den Schmerz um den Verstand gebracht, sondern eine der intelligentesten, modernsten und – tapfersten Frauen Hamburg sim 18. Jahrhundert: Elisabeth Hudtwalcker.
Es war das Leben einer Frau, die bei der Geburt von neun Kindern, von denen drei sehr Jung starben, der Rückständigkeit einer vergangenen Epoche grausamen Tribut zahlen musste – die aber anderseits in der Gesellschaft fortschrittlicher Denker und berühmter Künstler das Heraufdämmern eines neuen Zeitalters miterleben durfte.
Elisabeth, am 6. Juli 1752 geboren, war das jüngste von drei Kindern. Ihr Vater starb kurze Zeit später, nur 31 Jahre alt, an Schwindsucht. Auch seine kleine Tochter war sehr kränklich. Das hinderte sie jedoch nicht, sich mit Fleiss und Ehrgeiz binnen kürzester Zeit eine ausgezeichnete Erziehung zu verschaffen. Sie sprach fliessend Englisch und Französisch, lernte Klassiker auswendig und übte sich im längst von moderneren Tänzen verdrängten Menuett. Ihr Lieblingsfach jedoch was Zeichnen.
Ihre schwache Konstitution erwies sich zwar – vorübergehend – als Ehehindernis, den der Kaufmann Johann Michael Hudtwalcker, der 1775 als 28jähriger um ihre Hand anhielt, musste erst den Widerstand seines Vaters überwinden, der die junge Braut in Augenschein nahm und für “kränklich schwächlich” befand. Ähnliches sagte allerdings auch die Mutter der Braut über den Bräutigam, und so glich sich das mehr oder weniger wieder aus.
Durch dieses Heirat gelangte Elisabethin den Mittelpunkt des feinen Hamburger Geldadels. Da ihre Interessen aber weniger den Konten und Konkurrenten, sondern mehr den Kunstwerken und Künstlern galten, sie auch selbst weiter begeistert malte, sammelte sie bald einen Kreis von berühmten, begabten oder mindestens interessanten Zeitgenossen um sich, wie ihn sich heute höchstens noch die Waschmittel-Königin Gabriele Henkel in Düsseldorf leisten kann.
Bei Hudtwalckers verkehrten der Landschaftszeichner Christoph Heinrich Kniep, der Goethe nach Sizilien begleitet hatte, und der französische Bildhauer Dominique Rachette. Der berühmte Kupferstecher Daniel Nikolaus Chodowiecki begutachtete Elisabeths Zeichnungen, der nach minder erfolgreiche Bildhauer Johann Gottfried Schadow lud sie nach Berlin in sein Atelier ein. Sogar der Picasso jener Zeit, Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, half der Kaufmannsfrau an Leinwand und Palette.
Ihr Ehemann machte indessen in Politik: Er wurde zum Ratsherrn gewählt. Später erinnerte er sich: «Aber das machte auf Elisabeth keinen Eindruvk. Im Gegenteil: Sie lachte herzlich, weil ich darüber so erschüttert war.”
Aber das Leben hielt der Familie auch viele Schiksalsschläge bereit. Ihre zweite Tochter erlag, als die elf Monate alt war, einer Infektion. Die älteste erkrankte, nachdem sie gegen die Blattern geimpft worden war, und erblindete zeitweise. Im gleichen Jahr verlor Elisabeth ihre Mutter. Sie selbst wurde von einem schweren Fieber befallen. Eine weitere Tochter starb schon mit acht Wochen, die nächste wieder nach elf Monaten und wieder an der gleichen Infektion.
Auch Elisabeth starb am Fieber – am 22. November 1804. Sie starb im Kreis ihrer Familie, nach einem Bürgerleben, das an allem reich war, an Glück und an Unglück, und das vielleicht gerade deshalb so typisch für jene Epoche war.
Josef Nyary
Die Welt, 25. März 1977
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